Moment mal
von Pfarrer Tilmann Kuhn
Sehen, was ist
In sich zusammengesunken sitzt der alte Mann neben mir auf dem Beifahrersitz und erinnert sich. „Hier haben wir im Freien die Nacht verbracht. hier hat uns jemand einen Eimer Wasser an den Straßenrand gestellt, auf den sich alle stürzten und von den Bewachern mit Kolbenstößen wieder auseinandergetrieben wurden. Hier waren Menschen, die uns bespuckten. Und immer wieder brach einer zusammen, starb im Straßenstaub, wurde auf den nachkommenden Wagen geworfen oder am Straßenrand verscharrt. Und die Schüsse hinter uns, mit denen die Ermatteten ermordet wurden, gellen noch durch meine Träume." Rudi Herz hat das mörderische Regime und die Unmenschlichkeit seiner Handlanger überlebt. Er hat mir die Augen geöffnet über das, was sich unter unseren Straßen verbirgt. Seitdem gehe und fahre ich anders über diese Erde, in deren Schoß sich das Stöhnen der Gemarterten bereithält, am Tage des Gerichts gegen das Gebrüll und das Geheul der Täter aufzustehen.
Solche Gedanken gehen mir durch den Sinn, während wir am heutigen Freitagvormittag, dem siebenundzwanzigsten Januar, dem Auschwitz-Gedenktag, am VVN-Mahnmal in Perleberg stehen im Gedenken an die Ungezählten, die zu Opfern gemacht wurden. Das 'Nie wieder!' wird von der Rednerin aufgerufen, das die Überlebenden damals prägten. Nie wieder darf es solches Morden geben, nie wieder die Ausgrenzung von Menschen aus der Gesellschaft wegen ihrer Rasse, ihres Glaubens, ihrer politischen Haltung, ihrer sexuellen Orientierung! Nie wieder darf es möglich sein, Menschen seelisch zu knechten, so daß sie zu Unmenschen werden, zu Tätern, zu Bestien!
Wo aber beginnt solche Entwicklung? Vielleicht im Übersehen von Anzeichen und Anhaltspunkten? Vielleicht im Sich-Abfinden mit dem, was scheinbar immer schon so war, sich aber im passenden Moment zu einem Impuls, einem Ausgangspunkt, einer Wallfahrtsstätte entwickeln könnte? Die möglichen Konsequenzen sehen wir gegenwärtig an der Zwickauer Mordclique, die Menschen mit Immigrationshintergrund ermordet hat.
Ich befinde mich gegen Mittag anläßlich einer Beisetzung in der Wittenberger Trauerhalle. Eine Frau hat 101 Jahre lang das zwanzigste Jahrhundert durchmessen und das erste Jahrzehnt des neuen Jahrtausends gekostet. Mein Blick schweift vom aufgebahrten Sarg zum Fußboden. Terrazzo-Platten, auf jeder zweiten Platte ein geometrisches Muster aus schwarzen Strichen. Merkwürdig dieses Muster, es trägt eigentlich keine Aussage in sich, ist bloßer Schmuck. Auf einmal durchfährt es mich, als ich meinen Blick umstelle von der Wahrnehmung der schwarzen Linien auf die Zwischenräume: Ist das nicht das Kennzeichen des Mörderregimes? Ich weiß nicht, ob das Gedenken vor anderthalb Stunden mich übersensibilisiert hat. Sehe ich das Menetekel der Bibel oder interpretiere ich hier etwas hinein in etwas völlig Banales, das aber auch gar nichts mit der Wirklichkeit zu tun hat? Ich habe zu wenig Kenntnis über die Wittenberger Geschichte, um Zusammenhänge zwischen der Bau- oder Umgestaltungsgeschichte der Trauerhalle sehen zu können. Aber ich sehe dennoch etwas, was mich erschreckt. Dieser Tag mit seinem Thema fordert uns auf, zu sehen, was ist!
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