Moment mal
von Pfarrer Sacha Sommershof
Was ist Wahrheit?
„In der Kirche wurde schon immer Klartext geredet und eine Sprache der Wahrhaftigkeit gepflegt.“ Das sagte jemand im Rückblick auf die Rolle der Kirche in der DDR im Allgemeinen und bezogen auf die Friedensgebete während der Zeit der friedlichen Revolution vor 25 Jahren im Besonderen. Dieser Ort, an dem die Wahrheit Raum griff, öffnete mit die Tür zur Freiheit. Wahrheit ist schon immer ein fragiler Begriff gewesen, wer kann heute schon von sich behaupten, er könne in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft die Lüge von der Wahrheit unterscheiden. Doch man braucht gar nicht so weit zu schauen, um die Wahrheit verschwinden zu sehen. 200 Mal lügt ein Mensch am Tag, so haben es Wissenschaftler beobachtet. Dazu zählen nicht nur die kleinen und großen gesprochenen Lügen, sondern auch die Gesten, die gesenkten Blicke und schließlich das, was ich nicht sage. Manchmal, auch das gehört zur Wahrheit, hilft sie einem nicht weiter. Dann muss ich mich verstellen, das herauskehren, was ich gar nicht bin, gerade um meinem Gegenüber zu gefallen. „Das schönste an meinem Partner ist, das ich bei ihm sein kann, wie ich wirklich bin.“ Selbst diese Beschreibung gegenseitiger Wahrhaftigkeit kommt manchmal an ihre Grenzen, wenn um der Liebe willen die Wahrheit zurückbleiben muss. Auch der Blick in mein Inneres offenbart nicht die reine Wahrheit, dazu ertappe ich mich zu oft dabei, wie ich mich selbst belüge, auch um nicht unterzugehen in dem Meer von Anforderungen, die an mich gestellt sind. Glaube ich an Gott, dann wird doch wenigstens mein Verhältnis zu ihm von Wahrheit und Wahrhaftigkeit geprägt sein. Denn was sollte ich vor ihm verstecken, weiß er doch um alles, was mich bewegt und ausmacht. Doch mein Verhalten meinem Nächsten gegenüber ist nicht von meinem Verhältnis zu Gott zu trennen, mit jedem Schritt heraus aus der Wahrheit entferne ich mich auch von Gott. Kann das gut gehen oder sollte ich nicht innehalten, mich darauf besinnen, wie ich sie wieder finde – die Wahrheit? Am Mittwoch ist Buß- und Bettag, kein freier Tag, aber einer, der mich aus den Verwicklungen meiner Unfähigkeit zur Wahrheit befreien hilft. Die Kirchen, die Gottesdienste laden an diesem Tag als Orte des Gebets ein, an denen ich Klartext reden und eine Sprache der Wahrhaftigkeit pflegen kann. Ich trete heraus aus dem Alltag, komme zur Ruhe und finde in Gott einen Gesprächspartner, der mich auf mein wahres Ich stoßen lässt. Alles Verstellen kann ich für diesen Augenblick ruhen lassen. Ich kann den klaren Blick auf mich selbst wagen, auch auf die Gefahr hin, etwas zu entdecken, das ich um Gottes und meinem Nächsten willen ändern sollte. Buße tun, nicht als Akt des Niederdrückens, sondern als wahrhaftig neue Ausrichtung meiner Selbst Gott und meinem Nächsten gegenüber. Und so kann ich an diesem Buß- und Bettag zu jemandem werden, in dem die Wahrheit Raum greift und die Tür zur Freiheit aufgestoßen wird.
Einen gesegneten Buß- und Bettag wünscht Ihnen Ihr Pfarrer S. Sommershof
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